Samstag, 14. April 2012

Abraham's Daughter



Ein verschmiertes grün. Die Farben gehen ineinander über, als hätte jemand eine Leinwand genommen, verschiedene Nuancen auf dem Untergrund verteilt und wäre dann mit der Hand darüber geglitten.  »Haben die etwa kein Geld, dass sie sich kein zweites Auto leisten können?« Ein Schlag unter die Gürtellinie. Heiße Wut, schäumend und kochend dringt in mir auf. Ich lehne mich nach vorne, die Fingernägel fest in den Vordersitz gekrallt. »Du bist so ein Arschloch! Hör auf deinen Mund über Dinge aufzureißen, von denen du keine Ahnung hast!« Ich rümpfe die Nase. Ich hasse es, wenn manche Individuen unserer Spezies meinen, sich über Dinge auszulassen, von denen sie nichts wissen, wenn sie Kommentare reißen über den Schmerz, die Verzweiflung hinter Fassaden oder gewissen Umständen. »Nicht so laut, Norwegen! Stimmt doch, ich teile mir mein Geld auch ein, warum können das andere nicht?«
Weil nicht jeder ein arroganter Besserwisser sein kann. Weil man es dir nicht Recht machen kann. Nicht mit guten Noten, nicht mit seinem Freund. »Sei ruhig!« Ich gehe nicht weiter darauf ein. Ich will meinen Kopf behalten. Stattdessen sehe ich wieder aus dem Fenster. Der Baumfront waren Schilder und karge Wiesen gewichen. Der Flughafen wird sogar schon aufgeführt. Ich sehe zu den Wolken hinauf, die sich vor dem grauen Himmel herschieben, eine sah aus wie eine Hand, noch kurz denke ich über diese unregelmäßige Ansammlung von Wasser und Luft nach, ehe ich erneut geradeaus blicke und plötzlich Splittern sehe.
Mein Körper ist gelähmt, als es erst olivefarben, dann weiß und dann schwarz wird. Ich werde nach vorne geschleudert. Der Sitz vor mir ist zerquetscht. Ein Schmerz, welcher meinen Kopf und meine Brust zu verbrennen scheint und dennoch nicht spürbar ist überkommt mich. Etwas fließt meine Wangen herab. Verschwommen erkenne ich die rote Farbe, sehe nach vorne, erkenne geberstetes Glas und einen großen, schwarzen Wagen, der von einer Frau mittleren Alters gefahren wird. Ich weiß nicht, warum ich gerade ihr Gesicht wahrnehme, in dieser Situation, doch es ist angstverzerrt, denn sie weiß, dass sie durch den Schock nicht bremsen kann. Wieder eine Erschütterung, Räder, dann Leere.
Ich habe davon geträumt. Wie ich sterben würde, wie ich wüsste, dass ich sterben müsste und wie danach nur Schwärze in mir sein würde. Ich schlafe. Ich fühle nichts. Ein Traum schleicht sich in mein Bewusstsein, ich steige auf. Ich habe keine Kontrolle. Als wäre ich nicht gestorben, sondern säße im Flugzeug erkenne ich die Welt unter mir, verborgen hinter dem Nebenschleier der Wolken. Es ist Nachmittags und eine rote Sonne taucht das Szenario der Wolken in ihr rotes Licht. Die Berge wirken wie eine eigene Landschaft, ein Gebirge aus strahlendem, reinem, beflecktem Weiß.  Ich versuche mich zu fühlen, doch es ist unmöglich. Ich bin körperlos, oder vielleicht noch meine unsichtbare Silhouette. Doch ich merke, wie ich mich bewegen kann. Wie ich fliege, durch Raum und Zeit, wie ich die Welt sehe. Ich sehe die Unfallstelle, den Stau, das Auto, welches uns gerammt hatte und dessen Fahrer schuld daran war, dass er mich und weitere Menschen in den Tod gerissen hatte.
Euphorisch und erschrocken zugleich stelle ich fest, dass mein Vater noch lebte. Weswegen ich mich erschreckte? Ich wünschte ihm lieber den Tod, als das Leben, welches ihn nun erwarten würde. Tränen schwammen in meinen nicht vorhandenen Augen. Etwas berührte Mein Bein. Und obgleich ich ihn nicht sehen konnte, kniete ich mich nieder und umarmte ihn. Wie kann ich es beschreiben, zu fühlen und doch nicht zu sein? Zu wissen, doch nicht zu sehen, was man selbst ausmachte? Geistesabwesend streichle ich meinen Hund, dessen liebevolles Atmen ich als Echo wahrnehme. Willst du mich etwa begleiten?
Ich verweile nicht länger. Schließe die Augen. Ich warte. Ich gehe. Ich bin zu Hause. Ich sehe unser Wohnzimmer, höre das Telefon klingeln. Sehe meine Mutter, wie sie nichts Ahnend vor dem Fernseher sitzt. Panisch renne ich zum Hörer, strecke meine Hand aus, um sie zu stoppen. Sie schiebt ihren Begleiter zur Seite, geht auf das Telefon zu, hebt ab, geht durch mich hindurch. Ich sehe nicht hin, ich höre nicht hin. Ich verschwinde einfach, an den einzigen Ort, an dem ich mich sicher fühlen würde.
Ich setze mich auf sein Bett, lehne mich an die kalte Wand, an die ich damals gepresst war, als sich unsere Lippen das erste Mal berührten. Ich sehe mein Bild auf dem Nachttisch. Sehe die gezeichneten Bilder. Ich liebe dich – Norwegen. So habe ich sie unterzeichnet, mit drei magischen Worten und meinem Namen. Wie würde er es herausfinden? Er hörte kein Radio. Oder vielleicht doch? Sicher würde er nicht auf die Idee kommen, dass es sich um mich handeln könnte, hörte er von der Unfallstelle.
Die Tür öffnet sich und er betritt den Raum, ich springe auf, will ihn umarmen, doch er streift sich nur die Hose ab und lässt sich müde aufs Bett fallen, schaltet seinen Laptop an. Ich lasse mich neben ihm nieder, streichel über sein Gesicht, lege meine Hand auf seine. Das war’s dann wohl. Obgleich ich dich schon vorher als solche bezeichnete, nach unserer Definition, bist du wohl die Liebe meines Lebens. Ich habe kein Leben mehr. Zumindest kein solches, wie du es kennst.
Ich verweile. Er legt sich schlafen. Ich schlafe mit ihm ein, doch die Tür wird aufgerissen und er brummelt wütend, dass jemand es wagt, ihn so unsanft zu wecken. Es ist sein Vater, den ich noch nie so gesehen habe. Ich hatte auf Dauer vergessen, dass Männer weinen konnten. Ich wende den Kopf ab, höre nicht zu. Er wird von seinem Vater in den Arm genommen, doch er kommt zurück, schickt ihn raus, ergreift mein Bild, schmeißt es von sich und setzt sich auf sein Bett. Die Hände zu Fäusten geballt, ein Zeichen des Schmerzes.  Ich werde bei dir sein, knabbere ich sanft sein Ohrläppchen an, ein Lufthauch, ein Nichts, welches er nicht spürte. Ich blieb nicht. Ich konnte nicht bleiben. Ich würde mir einen Traum erfüllen, um den Schmerz zu vergessen. Ich wollte schöne Erinnerungen, nicht den innerlichen Tod der Menschen, die ich liebte.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Ich brauchte sie nicht mehr, doch ich kehrte zurück. Nachdem ich die Welt gesehen hatte, kehre ich zurück in jenes Zimmer. Er ist fort, doch ich suche die Anhaltspunkte. Wühle in Dokumenten. Er lebt Kilometer weiter Nord-östlich. Ich sehe das Haus. Es ist so, wie er es sich gewünscht hatte. Klein. Überschaubar. Mit großen Bäumen im Garten. Ich sehe einen Kater auf einem von ihnen. Zitternd betrete ich den Flur, höre Lachen, seine Stimme. Es hätte mich nicht wundern sollen, dass sie um diese Zeit am Mittagstisch saßen. Sie sitzen sich gegenüber. Er hält ihre Hand, streichelt ihr über das Gesicht, so wie er es bei mir getan hatte. Ich beiße mir auf die Lippe. Es überrumpelt mich stärker, als ich erwartet hätte. Hinauf renne ich die Treppen des fremden Hauses. Ein Schreibtisch. Ich greife die Füllfeder. Ein Stück Papier. Die Seele der Atome. Die Tinte, die auf das Papier tropft verschwindet sofort, doch dennoch zeichnet sie die Worte auf den matten Untergrund.
Mein Geliebter.
Ich wünsche dir jedes Glück dieser kargen Welt. Ein letztes Mal. Ich hatte den Wunsch deine Seele zu sein, deine Wärme. Ich konnte dir nicht in die Augen sehen, ich wollte nicht das Suchen nach mir erkennen oder es mir einbilden. Vor allem Letzteres nicht. Das würde sie nicht verdienen. Das wünsche ich mir nicht. Doch ich denke, würdest du von mir gerissen werden, würde ich immer nach dir suchen. Vielleicht hättest du mich gefunden, wäre ich geblieben, hätte ich dir die Chance gegeben. Ich will deinen Tod nicht. Doch ich weiß, dass du mich noch einmal töten wirst, in dem Moment, da ich dich endlich wieder haben werde, du mir gegenüber stehst und schon einer anderen versprochen. Würdest du zu mir zurückkehren? Würdest du mich küssen? Oder hättest du tatsächlich jene eine Liebe gefunden, auf die ich wohl keine Chance hatte? Ich bin ein Kobold, eine Fee, auf der Suche nach Gold, doch es gibt nur diesen einen Regenbogen, doch keine zwei Töpfe. Wir versprachen uns einst ‚Komme, was wolle‘. Doch ich will es dir nicht abverlangen. Nicht länger. Schmerz. Verbitterung. Hoffnung. Sehnsucht. Farce. Farce. Farce. Farce.

Ich liebe dich. Norwegen.